Jahresbericht

Von der Freude am Leben

Manuel Arn ist Anfang Vierzig, als im ALS diagnostiziert wird, eine unheilbare Krankheit. Trotzdem sei er glücklich. Eine Geschichte über Dankbarkeit, Halt und Mitgefühl in fünf Kapiteln.

Manuel Arn sagt, er empfinde das Leben als «besinnt» und präzisiert: «In Form von Sinngebung. Und auch im Sinn von sinnlich.» Für ihn funktioniere die Wahrnehmung des Lebens über die Sinne und die Emotionen, sagt er. Interview mit dem zweifachen Vater, der seit über zehn Jahren mit der unheilbaren Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) lebt.

Es gibt den Ausdruck «sekundärer Krankheitsgewinn», wenn jemand «Vorteile» aus seiner Krankheit gewinnt, sie ihn beispielsweise ermächtigt, frei von Verpflichtungen zu sein. Könnte man von einer «Carte Blanche» sprechen? Ja, das stimmt. Ich würde aber sagen, es ist wertvoll, wenn man sich diese «Carte Blanche» selbst aushändigen kann. Es brauchte Mut, mir zu erlauben, das Leben zu kosten, in meinen Möglichkeiten.

Wie gelang Ihnen das? Als die ersten Symptome da waren, hörte ich die Geschichte von den Menschen, die trauernd am Grab eines ungelebten Lebens standen. Ich bezog das damals auf mein eigenes Leben, fragte mich, ob das jetzt alles gewesen sei. Das war heftig. Ich musste etwas verändern an meinem Leben.

Wie finden Sie Ihren Weg, entgegen der Erwartung, dass es einem schlecht gehen müsse mit dieser Krankheit? Ich kenne das Leben als «gesunder Mensch» und erinnere mich, dass ich keineswegs jeden Morgen aufwachte und fand, Ach’ wie schön das Leben doch ist! Nein, das war nicht so. Manchmal fordert einen das Leben heraus, damit man etwas erkennen kann, lernen, ausprobieren. Diese Krankheit bringe ich nicht weg. Aber etwas mit meiner Zeit bewirken, wodurch ich mich erleben kann, meine Kreativität, meine Wirksamkeit, das macht frei. Klar, es gibt Sachen, die mich aufwühlen oder ungeduldig werden lassen. Heute erlebe ich das bewusst, kann mich fragen, ob ich es besser hätte machen können. Ich habe den Anspruch an mich, dass ich Halt bewahre. Wenn die Dinge einfach sind, ist es nicht schwer, sie zu erfüllen. Wenn es aber nicht nach Plan läuft, wird es interessant.

«Ich mag die Dinge, die wir nicht greifen können»
Manuel Arn

Was gibt Ihnen Halt, wenn es nicht nach Plan läuft? Einen anderen Plan suchen. In Bewegung kommen. Natürlich geht das nicht immer. Als ich vor einem Jahr zwei Mal eine schwere Lungenentzündung hatte, wäre ich fast gestorben. Es war nicht mein Verdienst, dass ich überlebt habe. Einfach «Merci!», weil, ich bin gern hier. Ich finde es die interessantere Haltung, wenn ich dankbar sein kann, für das, was mich im Leben vorwärtsbringt. Es ist eine Perspektive, die mir ein besseres Leben beschert, in einem Moment, in welchem meine Lebensumstände ziemlich aufwendig sind. Für mich bietet diese Krankheit viel Potenzial, hinzuschauen, geduldig zu werden, die Hoffnung zu zelebrieren, Dankbarkeit zu üben.

Was gibt Ihnen sonst noch Halt? Natürlich gibt es Menschen, die mir sehr nahe sind, sehr wichtig für mein Leben, mein Wohlbefinden, mein Gleichgewicht. Zugleich sehe ich mich selber als treibende Kraft für dieses Miteinander. Wenn man dem Leid begegnet, kann man sich isolieren, und sagen, man sei der «Arme im Umzug» oder sich mit Mitgefühl begegnen – dann kann man auch anderen Menschen so begegnen. Womöglich wäre ich auch sonst auf diesen Weg gekommen. Aber ich begegnete einer Dringlichkeit, die mich antrieb, etwas zu wagen. Vielleicht wagen, krank zu sein und zugleich glücklich. Ich glaube, dass wir Konfrontation brauchen, damit etwas passiert in unserem Leben. Ich sehe eine grosse Kraft im Leid.

ALS Schweiz Die Patientenorganisation unterstützt Menschen mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und ihre Angehörigen seit dem Jahr 2007 mit einer Vielzahl von Angeboten:

  • Hilfsmittel-Leihservice
  • Sozialberatung, psychologische Begleitung und Beratung zur Wohnsituation
  • Direkthilfe in finanzieller Notlage
  • Physische und virtuelle Austauschtreffen
  • Vernetzung und Schulung von Fachpersonen
  • Ferienwochen für Betroffene und Angehörige

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) Die unheilbare Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems führt in kurzer Zeit zu Lähmungen am ganzen Körper, vermindert die Lebenserwartung zumeist drastisch und wirkt sich in vielen Fällen auf die Kognition aus. In der Schweiz sind etwa 600 Menschen von ALS betroffen, weltweit ungefähr 400’000. Die Krankheit bricht meistens in der Lebensmitte aus, etwas häufiger bei Männern als bei Frauen.

Nationaler ALS Tag: ein grandioser Erfolg!

ALS Schweiz zählte am Nationalen ALS-Tag 30 % mehr Teilnehmende als vor zwei Jahren. Nebst Forschung und Behandlungspraxis bot der Verein eine Auseinandersetzung mit dem Thema Nähe und Erotik bei der unheilbaren Nervenkrankheit ALS. Von den 202 Teilnehmenden haben fast die Hälfte an der anschliessenden Umfrage teilgenommen – wow!

Knapp 60 % der Umfrageteilnehmenden waren Fachpersonen, rund 30 % Betroffene und Angehörige.
Der grösste Mehrwert wurde von den Teilnehmenden im Erwerb neuen Wissens gesehen, gefolgt vom fachlichen Austausch und dem Austausch unter Betroffenen.

71 % der Teilnehmenden hielten die Themen für sehr relevant, während 22 % sie teilweise als relevant empfanden.
Fast 100 % der Umfrageteilnehmer würden den ALS-Tag weiterempfehlen.

Stimmen der Teilnehmenden

Ausstellung «Hauptsache gesund»

Das Stapferhaus in Lenzburg zeigt zurzeit «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen».

In der Ausstellung kommen Menschen wie Regula Wipf, ALS-Betroffene, zu Wort. In Videoporträts erzählen die Betroffenen von ihren Erfahrungen mit ihren Erkrankungen, von den Schwierigkeiten und auch von schönen Momenten, die sie ohne Krankheit nicht erlebt hätten.

> Webseite vom Stapferhaus

> Clip 1 mit Regula Wipf | Clip 2 mit Regula Wipf

> Gesichter einer Krankheit

Wimmelbuch: Abschied nehmen

Das «Wimmelbuch vom Abschiednehmen» thematisiert die Gleichzeitigkeit von Leben und Leid und begleitet ganz unterschiedliche Menschen, die einen Abschied verkraften müssen, über ein Jahr hinweg: In den sechs bunten, grossformatigen Wimmelbildern durchleben sie inmitten des wuseligen Alltags Phasen und Rituale der Trauer, erfahren dabei auch immer wieder schöne Begegnungen mit ihren Mitmenschen und Momente von Freude, Hoffnung und Trost. Geeignet für die Trauerbegleitung und für alle lebensinteressierten Menschen ab 2 Jahren.

Informationen und Bestellung: Wimmelbuch: Abschied nehmen von Sophia Bartenstein und Andrea Peter

> Kinder und Jugendliche

Ferienwoche: Impressionen und Berichte

Die diesjährige ALS-Ferienwoche fand vom 3. – 10. September in Locarno statt. Sechs ALS Betroffene und ihre Begleitpersonen logierten im Tertianum Locarno, das Wohnungen mit medizinischer Unterstützung anbietet. Mehrere Betreuende sorgten tagsüber für das Wohl der Gäste bei den verschiedenen Ausflügen.

Am ersten Tag nach der Anreise ging’s in die Falconeria Locarno, einem wunderschönen Ort in der Nähe des Tertianum, wo ein Einblick in die faszinierende Welt der Greifvögel gewährt wurde. Der Schiffsausflug auf dem Lago Maggiore am nächsten Tag war leider verregnet, trotzdem genossen die Teilnehmer die Ambiance und das Essen im gemütlich eingerichteten Katja Boat.

Am folgenden Tag ging es mit der Seilbahn in die Bergwelt oberhalb von Locarno nach Cardada bei annehmbarem Wetter ohne Regen. Alle konnten dort die wunderbare Aussicht geniessen und nach einer leckeren und inzwischen traditionellen Polenta die Höhenluft atmen.

Der nächste Tag war leider wieder sehr regnerisch, so dass die geplante und von der Spitex ALVAD offerierte Paella im Tertianum eingenommen wurde. Der weitere Tagesverlauf wurde mit Brett- und Kartenspielen, sowie einer begleiteten Malaktion gestaltet. Übrigens – das daraus entstandene Kunstwerk lässt sich sehen!

Am letzten Tag wurde die erneute Schifffahrt mit dem Elektro Boot «Katja» angetreten rund um die Isole di Brissago. Leider konnte die Insel wegen der vorhandenen Schotterwege nicht mit den Elektrorollstühlen angefahren werden.

Der wunderbare und kulinarische Ausklang am Abend fand wie gewohnt im Weinkeller Delea in Losone statt.

Berichte von Esther Frey (Projektleiterin Ferienwoche) und Michael Lang (Sozialarbeiter)

Impressionen der Ferienwoche

Über die eigene Grenze gehen

Baptiste und Vasco Bühler: zwei Brüder, die für ALS an ihre Grenze gingen.

Letzten Sommer war ihre Grosstante an ALS verstorben. Sie sei wie eine Grossmutter für sie gewesen, erinnert sich Baptiste. Um Menschen mit der unheilbaren Krankheit zu unterstützen, beschlossen sie, an einem Triathlon Geld zu sammeln.

Gesagt, getan: am 18. August 2024 erkämpften Baptiste und Vasco Bühler am Wallis-Triathlon 3’500 Franken für Menschen mit ALS. Sie seien entschlossen, an ihre Grenzen zu gehen, sagte Baptiste vor dem Triathlon. Ihre Entschlossenheit liess sie sogar über ihre Grenzen gehen. Denn es war der erste Triathlon der beiden jungen Männer.

> Spendenaktionen

Wenn der Mann digital spricht

Anfangs sei es fremd gewesen, die Stimme ihres Mannes als digitale Kopie zu hören, erinnert sich Edith Dudler: «Es ist nicht 1:1, aber ich habe mich daran gewöhnt», sagt sie.

Im allerletzten Moment
Im August 2022 wurde dem früheren Elektromechaniker die schwere Nervenkrankheit ALS diagnostiziert, bei der über achtzig Prozent der Betroffenen Probleme mit der Stimme bekommen. Bei Willi Dudler beginnen sie ein Jahr vor der Diagnose. Auf Wunsch seiner Frau digitalisiert er seine Stimme; im allerletzten Moment. Inzwischen sei seine natürliche Stimme kaum mehr zu erkennen, sagt Edith Dudler. Nachdem Willi Dudler seine Stimme digital hat, ruft er seine Frau an. «Das berührte mich enorm», sagt sie. Seine neue Stimme komme etwa zu 75 Prozent an seine frühere heran, so Edith Dudler. Schade sei einfach, dass er nicht mehr in seinem Dialekt sprechen könne, sondern nur noch Hochdeutsch. Das sei bislang technisch leider noch nicht möglich. Der Verein ALS Schweiz verfolgt die Entwicklungen und wird bei der ersten Gelegenheit die Chance nutzen, das Angebot auch auf schweizerdeutsch anzubieten.

Seine Stimme werde sie nach seinem Tod wohl aufbewahren, sagt Edith Dudler.

Ein gutes Leben
ALS verkürzt die Lebenserwartung der Betroffenen meistens auf drei bis fünf Jahre nach den ersten Symptomen. Edith und Willi Dudler wussten deshalb nach der Diagnose nicht, ob sie noch einmal zusammen würden Weihnachten feiern können. Aber sie haben sich nie gefragt, warum es sie getroffen hat und warum es gerade diese Krankheit ist. «Es ist, wie es ist», sagt sie. Das sei ihre Einstellung und sie hätten beide ein gutes Leben gehabt.


Kostenloser Zugang Der Verein ALS Schweiz bietet seinen Mitgliedern in Kooperation mit der Acapela Group kostenlosen Zugang zum Voice Banking, um ihre Stimme digital zu erfassen. Ein entscheidender Schritt für ALS-Betroffene, um ein Stück Normalität zu bewahren.

Grosses Interesse Das Angebot des Vereins ALS Schweiz zur Digitalisierung der Stimme für Menschen mit ALS stösst auf grosses Interesse. Das sind die Zuwachsraten seit Projektstart im März 2023: 31 Beratungen (plus 29 Prozent) | 21 genehmigte Gesuche (plus 31 Prozent) | 16 aufgenommene Stimmen (plus 78 Prozent)

ALS-Formen spinal (60 bis 70 Prozent, Arme und Beine), bulbär (20 bis 30 Prozent, Sprech-, Kau- und Schluckmuskulatur), respiratorisch (ca. 5 Prozent, Atemmuskulatur) und Flail-Arm-Syndrom (ca. 3 Prozent, Schulter- und Oberarmmuskulatur).

Stimmverlust Die eigene Stimme ist ein wesentlicher Teil der Identität. Ihr Verlust kann Depression, Wut und Scham auslösen und zu Isolation führen.

> Voice Banking

Neues Angebot: Psychologische Begleitung

Haben Sie oder eine Ihnen nahestehende Person die Diagnose ALS erhalten und wünschen sich Begleitung/Unterstützung für diese Herausforderung?

Der Verein ALS Schweiz bietet neu psychologische Begleitung an für Menschen mit der Diagnose ALS und deren Angehörige.

  • Fühlen Sie sich innerlich überfordert und möchten mit jemandem über diese belastende Situation reden?
  • Wünschen Sie sich einen geschützten Raum, um sich mit der Krankheit und der dadurch veränderten Lebenssituation auseinanderzusetzen?
  • Jemanden, der Ihnen die Möglichkeit bietet, Strategien im Umgang mit der Krankheit zu entwickeln?

Wir stellen Ihnen ein niederschwelliges, unbürokratisches und kostenloses Angebot zur Verfügung, das keine ärztliche Überweisung erfordert und vertraulich ist.

Das Ziel ist es, rasche, unkomplizierte psychologische Unterstützung zu bieten für ALS Betroffene und deren Angehörige, in allen Stadien der Krankheit.

Die Begleiterin, Carmen Ruesch, ist mit der Krankheit und ihren Herausforderungen vertraut. Sie hielt kürzlich einen Vortrag über Resilienz bei unserer Mitgliederversammlung.
Mehr über das neue Angebot: Psychologische Begleitung

ICE BUCKET CHALLENGE RELOADED

Im Sommer vor zehn Jahren sah man auf Facebook & Co. jede Menge Clips von Menschen, die Eiswasser über ihren Köpfen ausleeren. Das Ganze hiess «Ice Bucket Challenge» und war eines der grössten viralen Ereignisse aller Zeiten. Dass es um die seltene Nervenkrankheit ALS ging, war längst nicht allen klar.

Spass trotz ernstem Thema
Zum 10-jährigen Jubiläum der Challenge stellte die International Alliance of ALS/MND Associations jetzt einen Clip mit Menschen aus aller Welt ins Netz. Der Clou: es sind alles Menschen von ALS-Organisationen, die einander symbolisch den Eiswasser-Kübel weitergeben. Auch das Team des Vereins ALS Schweiz ist dabei. Geschäftsführerin Andrea Wetz: «Für die internationale Community setzten wir auf Swissness. Und trotz des ernsten Themas machte es Spass, mitzuwirken»

Millionen in Wochen
Innert weniger Wochen kamen mit der Ice Bucket Challenge wie aus dem Nichts 115 Millionen US-Dollar zusammen, darunter 77 Millionen für die ALS-Forschung. Etwa für das internationale Genforschungsprojekt MinE. Brian Dickie, Forschungsdirektor bei der Motor Neurone Disease Association, sagte in der Times: «Es ist ermutigend zu sehen, wie jetzt Ergebnisse kommen, welche der Forschung weltweit neue Wege eröffnet» Ausgelöst hatte die Aktion der Profigolfer Chris Kennedy. Er habe seinen Cousin aufheitern wollen, der mit 34 an ALS erkrankt sei und hätte nie gedacht, dass das viral gehen würde.

500 bis 600 Betroffene in der Schweiz
ALS ist eine schwere Erkrankung des Nervensystems, die zu immer stärkeren Lähmungen führt, insbesondere an Armen und Beinen, dem Rumpf und der Atmung sowie am Sprech-, Kau- und Schluckapparat. Ausserdem sinkt die Lebenserwartung auf durchschnittlich drei bis fünf Jahre nach den ersten Symptomen. Der Verein ALS Schweiz unterstützt Betroffene und Angehörige seit 17 Jahren mit einer Vielzahl von Angeboten, Dienstleistungen und Kontakten. In der Schweiz leben etwa 500 bis 600 Personen mit ALS.

> Video Ice Bucket Challenge vom Verein ALS Schweiz