Ein wirkliches Leben
Von einem jungen Mann, der gegen das Elend westafrikanischer Strassenkinder antritt und, zurück in der Schweiz, erfährt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Sein Lebensmut und seine Demut sind beeindruckend und zeugen von innerer Stärke abseits aller Resignation.
Nicolas Gloor will Lehrer werden. Dann entdeckt er durch Zufall seinen Traumberuf: Sozialpädagoge. Nachdem er in Westafrika erste Berufserfahrung in einem Aufnahmezentrum für Strassenkinder sammelt, kehrt er in die Schweiz zurück und ruft eine Vereinigung ins Leben, mit der er sich für diese benachteiligten jungen Menschen einsetzen will. Doch mit 26 wird bei ihm die unheilbare und tödlich verlaufende Nervenkrankheit ALS diagnostiziert, Amyotrophe Lateralsklerose (siehe Box). Zu Besuch bei einem jungen Mann mit drastisch verkürzter Lebenserwartung, dessen Lebensmut ungebrochen ist.
Sie sagten in einem Interview, Sie hätten keine andere Wahl, als vorwärtszuschauen. Wie gelingt das?
Es ist nicht einfach zu akzeptieren, dass meine Tage bereits gezählt sind. Gleichzeitig sage ich mir, ich kann deprimiert sein, traurig, wütend oder ich kann sagen, nein, ich bin zufrieden, ich bin eingebettet mit meiner Familie und Freunden, also nutze ich, was ich nutzen kann. Und lebe ein wirkliches Leben, anstatt einfach hier zu sein.
Was trägt dazu bei, dass Sie Ihr Schicksal tragen können?
Es kommt oft vor, dass ich die Leute beruhigen muss. Das hilft mir. In dem Sinn, dass ich Stärke gewinne, wenn ich stark sein kann für andere. Meine beste Freundin sagt oft, Nicolas, was mache ich nur, wenn du nicht mehr da bist?
Weitere Ressourcen?
Ich habe Menschen, die mich lieben und die ich liebe; jemand kommt jeden Tag vorbei. Auch meine Ausbildung ist eine Ressource. Ich habe gelernt, zu analysieren, zu reflektieren – eben, was meine Ressourcen und meine Grenzen sind. Weiter habe ich harte Schicksale gesehen, Armut, Unglück, nicht nur im Senegal, auch in der Schweiz. Das ermöglicht mir eine gewisse Distanz zu meinem Schicksal. Und ich habe meinen Glauben, etwas ganz Persönliches, das mir hilft. Klar, 27 ist etwas jung, aber so ist es nun mal. Ich habe mein Leben in vollen Zügen gelebt.
Sie bleiben trotz tödlicher Krankheit positiv – wie machen Sie das?
Ich weiss auch nicht. Natürlich finde ich es schrecklich, was mir widerfährt, ALS ist wahrscheinlich eine der schlimmsten Krankheiten, die es gibt. Viele Leute sagen, sie würden das nicht aushalten, aber ich denke, das stimmt nicht. Vielleicht habe ich diese Krankheit, weil ich die Kraft dafür in mir habe.
Wie muss man sich den Krankheitsverlauf vorstellen?
Einer der härtesten Momente war, als ich Pasta kochen wollte und Mühe hatte, die Pfanne mit Wasser zu füllen. Letztlich schaffte ich es, konnte aber die Pfanne nicht ausleeren, als die Pasta soweit war. Ich versuchte es, sah aber, dass ich mich verbrühen würde und liess es bleiben. Das regte mich enorm auf und machte mich traurig. Dann rief ich jemand an, mir zu
helfen. Es war Mittag. Am Abend rief ich wieder jemanden. Ich hatte keine Lust mehr zu Kochen. Nachdem ich eine Zeitlang viel im Ofen machte, begann ich Essen zu bestellen.
Selbstständigkeit versus Abhängigkeit – wie finden Sie die Balance?
Das ist vielleicht das Schwierigste für mich. Beispielsweise das Zähneputzen mit der elektrischen Zahnbürste – kann ich den Knopf aus eigener Kraft drücken oder macht das besser jemand für mich? Tag für Tag stellt sich mir diese Frage. Es gibt Tage, wo ich froh bin, wenn es jemand macht. Auf der anderen Seite will ich meine Autonomie möglichst erhalten.
Sie leben allein in einer kleinen Wohnung – wie sieht die Zukunft aus?
Das ist eine der grossen Fragen zurzeit. Wie lange ich noch in dieser Wohnung leben kann und will. Ich werde einen Platz in einer Institution brauchen und will nicht zu lange warten. Deshalb machte ich einen Probeaufenthalt im «Plein Soleil» [www.ilavigny.ch]. Es ist nicht ganz so schlimm, wie befürchtet. Ich hätte sogar mehr Freiheit als heute. Ich könnte um zwei Uhr in der Nacht nach Hause kommen. Das kann ich hier nicht, weil am Morgen die Spitex klingelt.
Ihr Leben wurde gegen Ihren Willen ein komplett anderes – trotzdem wirken Sie nicht verbittert
Natürlich gibt es schwierige Tage. Immer wieder. Aber ich sage mir seit der Diagnose, jetzt geht es darum, das Beste daraus zu machen. Wie bei der Geschichte mit der Pfanne. Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, solche Momente zu haben. Wut und Trauer müssen Ausdruck finden. Heute schaffe ich es immer besser, mir zu erlauben, auch einmal traurig zu sein. Am Abend, wenn ich allein bin. Aber wenn ich mit den Leuten bin, möchte ich etwas davon haben. Die Krankheit ist da, aber sie bestimmt nicht alles.
Wie haben sich Ihre Lebensziele verändert?
Das Ziel meines Lebens war, Kinder zu haben. Das war sofort weg mit der Diagnose. Das musste ich verabschieden. Geblieben ist, dass ich am liebsten Zeit mit Menschen verbringe, die ich liebe. Natürlich keine Bergwanderungen mehr, aber ich kann immer noch mit Freunden einen Kaffee trinken.
Wie sieht es mit der Spontaneität aus?
Ich kann nicht mehr spontan sein. Wegen den Pflegeterminen. Der erste ist zwischen neun und zehn Uhr am Morgen, der zweite am Mittag, dann zwischen 15 und 17 Uhr und der letzte um Acht. Wenn ich dann nicht hier bin, hilft mir niemand ins Bett. Meine Freunde können einspringen, aber allzu oft will ich das nicht verlangen.
Gibt es auch Vorteile einer schweren Krankheit?
Absolut – ich muss nicht an Morgen denken. Muss kein Geld zur Seite legen. Kann jetzt leben. Wenn ich Lust habe, meine Freunde zu sehen, sehe ich meine Freunde. Fertig.
Sie sagten, es sei nicht einfach, zu akzeptieren, dass ihre Tage bereits gezählt seien.
Das sind sie für uns alle. Genau, jeder kann morgen schon sterben. Aber ich sehe es als Chance, zu wissen, dass mein Ende nahe ist. Wenn jemand unerwartet stirbt, war sein Lebensende auch nahe. Aber ich bin vorbereitet darauf.
Wie ist ihr Bezug zum Verein ALS Schweiz?
Den Verein lernte ich im Universitätsspital Lausanne kennen, man gab mir Infomaterial. Dann sah ich, dass es Treffen gab, hatte aber nicht das Bedürfnis, andere Leute kennenzulernen. Später machte ich bei einem Treffen mit. Das hat mir gut getan, die Leute waren keine Schwarzseher, wie ich befürchtet hatte, sondern positiv eingestellt. Ich fand es super! Ausserdem kannte einer meiner Therapeuten das Hilfsmitteldepot des Vereins, wo ich einen Rollstuhl ausleihen konnte. Der war in einer Woche hier. Auch mein Sessel ist von dort und erleichtert mein Leben enorm. Es ist gut, zu wissen, es gibt Menschen, die für mich da sind.
Zur Person
Nicolas Gloor (27) ist Sozialpädagoge und arbeitete in einem Begegnungszentrum für Strassenkinder in der Republik Senegal. Zurück in der Schweiz gründete er 2020 eine Stiftung, um
lokale Organisationen zu unterstützen. Er habe im Senegal eine seiner besten Zeiten seines Lebens gehabt, obwohl er aus purem Zufall dorthin gegangen sei.
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