Sich dem Leben hinzuwenden

Regula Wipf erinnert sich: «Ich war Ende Fünfzig, als mir dauernd ein Zeh einschlief, das störte mich beim Sport» Acht Jahre später schafft die passionierte Läuferin nur noch zehn Minuten. Als ihr Hausarzt sie zum Neurologen schickt, schiesst es ihr in den Kopf, dass es etwas Ernstes sein könnte. Sie hat Zuckungen in den Oberarmen, muss «in die Röhre» und erfährt schliesslich, dass sie ALS hat.

Es sei ein massiver Einschnitt gewesen, sagt Regula, «Es gibt ein Vorher und ein Nachher» Je mehr die Krankheit voranschreite, desto stärker werde einem bewusst, dass man nicht mehr zu den Gesunden gehört, sinniert sie. Seither kämpft sie dafür, nicht «in die Krankheit zu fallen», wie sie es beschreibt. Sich bewusst dem Leben hinzuwenden.

Zur Person: Regula Wipf-Landolt ist verheiratet, zweifache Mutter und hat zwei Enkelkinder. Sie ist Textil-Technologin bis zu ihrer Pensionierung und sagt, Sport sei ihr Leben gewesen.

Die Krankheit der 1’000 Abschiede: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine unheilbare Nervenkrankheit mit tödlichem Verlauf. Sie zerstört die Signalübertragung der Motoneuronen, welche die Bewegung von Muskeln steuern. Als Folge treten Lähmungen auf. Mit wenigen Ausnahmen; Herz und Augen bleiben intakt, sowie die Sinnesorgane. Bei 85 Prozent der Betroffenen beginnt die Muskelschwäche schleichend, an einer Extremität.

Lesetipp: Caduff (Hg.), Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben, Zürich, 2023.

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NEUANFANG FÜR REITERIN UND ROSS

Rund zwei Jahre ist es her, dass Regula Wipf die Diagnose «ALS» bekommt. Die unheilbare Nervenkrankheit raubt ihr kontinuierlich Muskelkraft und lähmt sie zusehends.
Sie reitet seit ihrer Jugend. Heute braucht sie die Hilfe von zwei Personen, um in den Sattel zu kommen. Und viel Zeit. Das braucht Geduld, auch von ihrem Pferd. Reiterin und Ross stehen an einem Neuanfang. Womöglich heisst er deshalb Novato; «Anfänger» auf Spanisch.

Das Reiten stärkt ihre Muskulatur und wirkt sich positiv auf Geist und Seele aus. Manchmal scheine es am Anfang der Reitstunde, als würde es nicht gehen, dann sei nach fünf Minuten jede Schwäche weg, sagt ihr Reitlehrer. Und Regula Wipf schwärmt: «Wenn ich oben bin, fühle ich mich frei.» Tierarzt und Reitlehrer Markus Scheibenpflug, www.equinelibrium.ch

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VOLLES VERTRAUEN 

Zuhause habe sie noch gedacht, sie würde beim Start die Augen schliessen, sagt Regula Wipf. Doch als der Gleitschirm bei Niederbauen (NW) abhebt, lässt sie sich nichts entgehen: «Ich hatte volles Vertrauen», sagt sie. 

Regula fliegt mit Emi Carvalho, der seit acht Jahren Tandemflüge macht. Die beiden lernen sich kennen, als Regula ihre Langlaufski verkaufen will. Sie hat ALS und verliert zusehends Muskulatur, ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Emi bietet ihr einen Flug für die Langlaufski an. «Das will ich machen», sei ihr erster Gedanke gewesen, das sei ihr schon früher im Kopf rumgeschwirrt. Und sie sollte es nicht bereuen. Wird von der eindrücklichen Ruhe schwärmen und dass sie die Einschränkungen ihrer Krankheit nicht mehr gemerkt habe. Auch ihre Höhenangst ist weg. 

Kaum gelandet, denkt sie schon an ein nächstes Mal: «Einen solchen Flug kann ich noch lange machen», sagt Regula Wipf. Und sie will anderen ALS-Betroffenen Mut machen. Man sei gut gestützt in der Vorrichtung, die Emi eigens für Menschen mit einer Einschränkung habe. Auch die Infrastruktur vor Ort sei sehr gut, mit Behindertentoilette und Rampen. Regula hat hoch über dem Vierwaldstättersee das Gleiten im Schnee gegen das Schweben im Himmel getauscht. Voller Vertrauen. 

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